Utopien in religiösen Systemen am Ende des 5. Jahrtausends
Vortrag anläßlich des Perry Rhodan Austria Con I
17. - 18. 10. 1998 Gleinstätten, Stmk
gehalten von Dr. Christian Wessely
Die folgenden Ausführungen gelten explizit für den christlichen Glauben, es kann aber zumindest teilweise auf andere Religionen, sofern sie organisiert sind, extrapoliert werden.

Was ist "Utopie", was "Science Fiction"?

Seit es Menschen gibt, besonders, seit sie in sozialen Gemeinschaften zusammenleben, gibt es jene Erfahrung, die ihnen allen bekannt ist: Die Erfahrung von Spannungen, von Unvollkommenheit, von Leid; von den Mühen des Zusammenlebens. Und so malen sich Menschen seit dieser Erfahrung aus, wie es sein könnte, wenn eine soziale Gemeinschaft ideal wäre und in einer idealen Umwelt leben würde - unter dem gleichzeitigen Wissen, daß es eine solche Gesellschaft nicht oder zumindest: nicht in erreichbarer Nähe - gibt. Im Griechenland des 5 Jahrhunderts wurde für diese Vorstellung erstmals ein Begriff geprägt: eine solche ideale Welt existiert an keinem Ort, griechisch : ou topou ... ein Begriff mit eienr großen Geschichte, vor allem mit großer Wirkung, war geboren.
Utopien sind also letztlich immer Gegenmodelle, Modelle, die Sehnsüchte, Wunschträume, Tendenzen, Hoffnungen ausdrücken; die Suche nach einem Kontrast zu dem, was hier und jetzt "der Fall ist". Utopie ist mit dem emotionellen Wert "positiv" besetzt.

Was ist dagegen "Science Fiction", und wie unterscheidet sie sich von der Utopie?

Science Fiction ist nicht wertbesetzt. Dieses Kompositum aus zwei nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Begriffen geht wie auch die Utopie von dem aus, was der Fall ist, aber sie schreibt dies linear fort, extrapoliert es auf der Grundlage der bekannten wissenschaftlichen Axiome und angenommener Hypothesen - es wird also versucht, eine "Fiktion", eine Vorstellung von dem, was noch nicht ist, mit dem Sprachspiel (im weitesten Sinne) der Science (also wissenschaftlich) aufzubauen.
Darüber, ob dies überhaupt möglich ist, ob also der an sich sehr hohe Anspruch der prinzipiellen Realitätsnähe der Science Fiction einholbar ist, steht mir keine Beurteilung zu - Stephen Talbott, einer der großen Metatheoretiker der Neuen Medien bestreitet dies in seinem Buch "The Future does not Compute" - doch es scheint mir sehr interessant, wie nah Utopie, Religion und Science Fiction in ihren Ansprüchen aneinander angrenzende Bezirke des menschlichen auszuloten versuchen.

Und genau betrachtet: Versuchen nicht auch immer wieder die Religionen, auch die christlichen, sich des Stilmittels der Utopie zu bedienen, um sich und ihren Anspruch zu legitimieren?

Tatsache ist, daß die ältesten bekannten Legitimierungserzählungen der Welt, die Mythen genau betrachtet neben utopischen immer Aspekte einer ihrer Entstehungszeit angemessenen "Science Fiction" in sich bergen. Und betrachtet man besonders die Sprachbilder im jüdisch-hellenistischen christlichen Kontext, hält man überrascht inne, um dem Zusammenhang näher nachzugehen - besonders prophetische Rede verwendet dieses Stilmittel immer wieder, um ihren Anspruch zwar nicht zu legitimieren, aber zu illustrieren.

Als Beispiele seien hier aus dem Alten Testament Ez 40, aus dem Neuen die Offenbarung des Johannes genannt; aber auch die vielen ausserbiblischen Zeugnisse des Umgehens mit Utopien sollen hier nicht vergessen werden - Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Thomas Morus und die vielen anderen der europäischen Geistesgeschichte sind zu wichtig, um sie in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen.

Ein religiöses System, sehen wir, bedient sich der Utopie, bedient sich durchaus der jeweils der Zeit angepaßten Science Fiction. Aber, es bedient sich, es verwendet die Sprachspiele, um zu illustrieren.

Was soll aber nun illustriert werden?

Religion ist, ganz allgemein gesprochen, auch der Versuch, mit der eigenen Kontingenzerfahrung umzugehen und die letztlich metaphysischen, aber für jeden Menschen unausweichlichen Sinnfragen "Woher - warum - wozu - wohin" zu beantworten.

Nun kann keinesfalls davon ausgegangen werden, daß am Ende des 5. Jt. eine Antwort auf dies Fragen immanent möglich sein wird. Denn welche Utopie man sich auch immer betrachtet - auch und ganz besonders die, die in der Perry-Rhodan-Reihe entwickelt wird - man stößt immer wieder auf die Erkenntnis, die sich sowohl dem Leser der Serie als auch den Akteuren in ihrer "virtuellen" Welt widerfährt, daß sie in einer letztlich nicht voll verfügbaren Welt leben.

Und das ist gut so - denn eine ideale und spannungsfreie Welt würde weder Stoff für spannende Fortsetzungen bieten noch für den Menschen (wie auch immer dieser sich zu dem gegebenen Zeitpunkt definiert) lebenswert sein.

Daher kann man davon ausgehen, daß es auch am Ende des 5. Jt religiöse Systeme in organisierter Form geben wird.

Wird es auch eine christliche Kirche, wird es auch Konfessionen geben?

Der große Theologe Karl Rahner hat schon Anfang der 70er Jahre gesagt, daß "der Christ des Jahres 2000 ein Mystiker oder gar keiner" sein werde. Er implizierte in dieser Aussage, daß der Einzelne sich in einen Zustand der Gottesnähe begeben müsse, um Christ zu sein, daß also die Institutionen der Religiosität an Einfluß und an Christlichkeit verlieren würden.

Die Situation heute, vor der Jahrtausendwende, ist nicht ganz so kraß, aber die Tendenz, von der Rahner gesprochen hat, ist bemerkbar. Die Religiosität der Menschen nimmt rein quantitativ zu. Aber sie ändert sich qualitativ nur zum Teil, und zwar zu einem kleinen Teil, in eine intensiv-mystische Richtung, in eine Richtung, die die Utopie vom Reich Gottes bejaht und für möglich hält (Science Fiction).

Dennoch kann man ausgehend von den Erfahrungen, die die Kirche - besonders die katholische, die im Hierarchisieren und Organisieren auf eine lange und recht erfolgreiche Tradition zurückblicken kann - gemacht hat, annehmen, daß jene Gruppen, die erkennen, daß ihre metaphysischen Fragen nicht immanent beantwortbar sind, sich auch wieder organisieren werden - und aus einer Organisation eines tradierten Glaubensinhaltes im Sinne der Offenbarung Christi wird fast unweigerlich (vom katholischen Standpunkt gesehen: notwendigerweise) eine Kirche.

Ein schönes Beispiel, sie verzeihen mir den Exkurs, bietet die Situation, die die Produzenten von Babylon 5 entworfen haben - in einer Zukunft, die nicht so weit entfernt ist, wie es das 5. Jt scheint, leben die Angehörigen vieler Religionen - auch christliche Mönche sind darunter - unter Austausch ihrer Ansichten friedlich zusammen - eine Utopie, natürlich. Aber sie zeigt relativ hellsichtig, daß Christentum zum Überleben Gemeinschaft braucht; daß Gemeinschaft zum Überleben Organisation braucht und daß von daher die Annahme, daß zumindest das religiöse System des Christentumes auch noch in einer Art Kirche organisiert ist, zumindest recht wahrscheinlich ist.

Ich persönlich kann mir gut vorstellen, daß am Ende des 5. Jt noch immer Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Jerusalem und an allen Ecken des Universums den Messias herbeibeten und den Kult pflegen werden; ich persönlich glaube, daß die Päpstin Kalummi XII etwa um diese Zeit den Zölibat für Priester und Priesterinnen in einer Enzyklika einschärfen wird; ich glaube, daß die Organisation Christliche Kirche zu diesem Zeitpunkt nicht wesentlich kleiner, aber auch nicht größer ist als heute (also prozentuell auf die dann besiedelten Sternsysteme gerechnet winzig).

Ich glaube auch, daß der Koran noch nach wie vor hoch im Kurs stehen wird, nicht notwendigerweise nur bei der relativ kleinen Glaubensgemeinschaft der Moslems, sondern allgemein als "interessantes Buch".

Ich glaube auch, daß unzählige Formen freier Religiosität sich organisiert haben werden, zum Teil verschwunden sind, zum Teil zu neuen Formen mutiert haben - ich glaube einfach insgesamt, daß mit einer Existenz organisierter Religiosität in ihren verschiedenen Formen auch dann noch zu rechnen ist.

Denn kein Fortschritt und keine Entwicklung kann unsere metaphysischen Grundfragen auflösen, und keiner kann die Botschaft vom Göttlichen als dem "ganz anderen, das transzendent ist" in die Immanenz bringen. Jede Entwicklung wird ihre eigenen Fragen aufwerfen, ihre eigenen Probleme zutage bringen und den Menschen vor neue - unbeantwortbare - Fragen stellen; so wird er immer wieder aufs Neue vor dem alten Problem der Kontingenz stehen und es nur mit Hilfe letztlich religiöser Aussagen bewältigen können.

Christian Wessely
E-Mail: christian.wessely@kfunigraz.ac.at